Können Embryos erben?
Das moderne Erbrecht erweist sich immer wieder als überaus komplexes und auch kompliziertes Gebiet der Rechtswissenschaften, das vor allem juristischen Laien häufig Schwierigkeiten bereitet. Die große Vielzahl an Gesetzen und Regelungen macht es künftigen Erblassern und auch Erben schwer, den Überblick zu behalten und sich mit den Eigenheiten des Erbschaftsrechts vertraut zu machen. Weiterhin finden in gewissen Abständen auch regelmäßig Reformen statt, die für mehr oder weniger gravierende Veränderungen des Erbrechts sorgen. Die Tatsache, dass der Tod ein Thema ist, mit dem sich die meisten Menschen nur äußerst ungern befassen, verschärft die Situation noch zusätzlich, weshalb im Bezug auf erbrechtliche Angelegenheiten im Allgemeinen eine große Unsicherheit besteht. Wer sich aus gegebenem Anlass näher mit dem Erbrecht beschäftigt, hat oftmals viele Fragen. So ist mitunter auch unklar, ob ein Embryo erben kann.
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Nasciturus im deutschen Erbrecht
Wer sich fragt, ob und inwiefern ein Embryo oder Fötus in der Bundesrepublik Deutschland erbberechtigt sein kann, stößt früher oder später auf den Ausdruck Nasciturus. Dieser Begriff stammt aus dem Lateinischen und kann mit „der in der Zukunft geboren werdende“ übersetzt werden. Folglich beschreibt der Ausdruck Nasciturus genau den Zustand eines Fötus oder Embryos. Das betreffende Kind wurde bereits gezeugt, hat aber noch nicht das Licht der Welt erblickt.
Der deutsche Gesetzgeber ist in § 1923 BGB recht eindeutig und legt hierin die Erbfähigkeit eines Menschen fest, dass ausschließlich Personen, die zum Zeitpunkt des Erbfalls leben, auch erbberechtigt sein können. Auf den ersten Blick erscheint diese Regelung simpel und logisch, aber bei näherer Beschäftigung mit diesem Thema tauchen oftmals Fragen auf. Insbesondere wenn es um die Erbberechtigung eines bereits gezeugten aber noch ungeborenen Kindes geht, stellt sich die Frage, ob dieses einen erbrechtlichen Anspruch geltend machen kann. Dies zu beurteilen, ist überaus schwierig, denn der Embryo existiert somit zum Zeitpunkt des Erbfalls zwar bereits, wurde aber noch nicht geboren.
Der § 1923 BGB schließt einerseits zum Zeitpunkt des Erbfalls nicht lebende Personen von der Erbschaft aus, macht im Bezug auf die Leibesfrucht allerdings eine Ausnahme. In § 1923 Abs. 2 BGB ist daher juristisch verankert, dass auch erbberechtigt ist, wer zum Zeitpunkt des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war. Der deutsche Gesetzgeber behandelt den Embryo so, als wäre dieser vor dem Erbfall geboren worden. Demzufolge ist ein Embryo in Deutschland ohne Weiteres erbfähig und gegenüber bereits lebenden Personen nicht im Nachteil. Sein Familienerbrecht in der deutschen Familienerbfolge kann er allerdings erst nach der Geburt geltend machen.
Embryo oder Fötus geschützt durch das Gesetz
In der Bundesrepublik Deutschland wird das noch ungeborene Leben auf mehrfache Art und Weise juristisch beachtet und geschützt. Gemäß Art. 1 Abs. 1 GG ist der Embryo Träger von Grundrechten. Gleichzeitig spricht § 1 BGB dem Nasciturus keine Rechtsfähigkeit zu. Im Zusammenhang mit dem Erbrecht ergeben sich hierbei aber einige Besonderheiten, denn obgleich der Embryo oder Fötus nicht rechtsfähig ist, ist er erbfähig. Wird das Kind lebend geboren, ist es hierdurch rechtsfähig und kann somit von seinem Erbrecht mithilfe des Vormunds Gebrauch machen. Für die Verteilung des Erbes macht es dann keinen Unterschied, dass das Kind erst später geboren wurde, da der Embryo erbrechtlich mit zum Zeitpunkt des Erbfalls lebenden Personen gleichgestellt ist.
Anhand eines Beispiels lässt sich die Erbberechtigung eines ungeborenen Kindes leicht veranschaulichen. Verstirbt ein Mann und hinterlässt neben einem Kind auch seine von ihm schwangere Partnerin, sind die beiden Kinder gleichermaßen auch als minderjährige Erben erbberechtigt. Der Gesetzgeber behandelt das ungeborene Kind, den sogenannten Nasciturus, ebenso wie das ältere Kind und beruft beide Kinder gleichermaßen zur Erbfolge. Auf den ersten Blick mag dies für juristische Laien befremdlich wirken, aber in der Praxis sorgt diese Regelung für eine maximale Gleichberechtigung. Folglich lässt sich feststellen, dass ein Embryo in Deutschland erben kann und juristisch so behandelt wird wie ein Kind des Erblassers, das zum Zeitpunkt des Erbfalls bereits lebte.
Eine solche Regelung existiert allerdings nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in einigen anderen Staaten. Zu nennen sind hier unter anderem Österreich und die Schweiz. Die diesbezügliche Gesetzgebung der Schweiz entspricht weitestgehend der Rechtslage in Deutschland und basiert auf Art. 31 und 544 ZGB. In Österreich ist für das Erbrecht eines Embryo vor allem § 22 ABGB relevant.